Was ist «Click Gap»?
Fake-Accounts, soweit das Auge reicht. Lebendige Prominente, die angeblich gestorben sind. Gerüchteküche in geschlossenen Gruppen. Politischer Propaganda und hasserfüllte Hetze. Für all das steht das soziale Netzwerk Facebook seit Jahren in der Kritik. Jetzt reagieren die Verantwortlichen mit «Click Gap» auf die Vorwürfe. Roger Basler berichtet, wer davon profitiert und wem es eher schadet.
Das statistische Instrument «Click Gap» bildet die Basis des neuen Facebook-Algorithmus. Das soziale Netzwerk will damit Falschmeldungen und unangemessene Informationen identifizieren. Zum Kollateralschaden werden dabei Blogger und Seitenbetreiber abseits der Massenmedien.
Wie «Click Gap» funktioniert
Likes, Kommentare und geteilte Inhalte: Interaktionen wie diese galten für unsere Facebook-Beiträge lange als einzige Messlatte. Je mehr Interaktionen wir mit einem Post generierten, desto höher war unsere Reichweite. In welchen Newsfeeds unsere Inhalte in Zukunft erscheinen würden, hing fast ausschliesslich von unserer Interaktionsrate ab. Was die Welt ausserhalb des sozialen Netzwerks von unseren Beiträgen hielt war für unsere Popularität auf Facebook fast irrelevant.
Das Statistik-Instrument «Click Gap» verändert diesen Zusammenhang. Als Teil des neuen Facebook-Algorithmus vergleicht das Tool die interne Verbreitung unserer Inhalt mit der Popularität abseits von Facebook. Die Differenz zwischen der Verbreitungsrate auf und ausserhalb des sozialen Netzwerks bestimmt ab sofort, welche Reichweite unsere Inhalte auf Facebook erreichen.
Die Annahme dahinter: Hilfreiche Links und wahre Informationen werden nicht nur auf sozialen Netzwerken geteilt. Wer Falschmeldungen und radikale oder anderweitig fragwürdige Informationen verbreiten möchte, setzt dagegen hauptsächlich auf Facebook. Ausserhalb verbreiten sich entsprechende Inhalte nur wenig. Für die Posts korreliert die interne Reichweite deshalb in den seltensten Fällen mit der externen.
«Click Gap» identifiziert diese fehlende Korrelation. Der neue Algorithmus sorgt anschliessend dafür, dass entsprechende Posts auch auf Facebook einen niedrigen Rang erhalten. So erscheinen fragwürdige Beiträge in vergleichsweise wenigen Newsfeeds und ihre interne Interaktionsrate nimmt ab. In Konsequenz dazu verliert die Quelle der Inhalte auf Facebook an Reputation und erreicht mit zukünftigen Beiträgen automatisch weniger Menschen.
Die Links und Artikel seriöser Medien belohnt «Click Gap» wegen ihrer hohen Verbreitung ausserhalb des Netzwerks ab jetzt mit einem hohen Rang. Dadurch dominieren sie in Zukunft die Newsfeeds von Facebook-Mitgliedern und erhalten die meisten Reaktionen. Mit «Click Gap» nähert sich Facebook der Funktionsweise von Google an. Bei dem Suchmaschinen-Giganten erscheinen Seiten mit Backlinks in den Suchergebnissen beispielsweise automatisch auf den vorderen Rängen.
Ein Terror-Video als Auslöser
Experten halten «Click Gap» vor allem für eine Reaktion auf die virale Verbreitung des Christchurch-Anschlags im März 2019. Der extremistische Täter filmte den Terrorakt auf zwei neuseeländische Moscheen damals per Handykamera. Über Facebook teilte er das Video in Form eines Live-Streams. Während der Übertragung sahen weniger als 200 Menschen den 17-minütigen Beitrag. Bevor Facebook das Video entfernen konnte, hatten bereits 4000 Nutzer darauf zugegriffen – innerhalb von lediglich zwölf Minuten. Eine Kopie der Aufzeichnung landete auf einer Filesharing-Seite, wodurch sich das Video auch nach der Löschung weiterverbreitete. Über eine Million Posts mit Bezug zu dem Terror-Video entfernte das soziale Netzwerk allein in den ersten 24 Stunden.
Bereits kurz nach der Tat reagierte Facebook mit Einschränkungen der Live-Video-Funktion. Die virale Übertragung von Terroranschlägen sollte dadurch in Zukunft verhindert werden. Nach schwerwiegenden Regelverletzungen sollten Nutzer von nun an keinen Zugang zu Live-Streams und Anzeigefunktionen haben – zumindest vorerst.
Unter einer schweren Regelverletzung versteht das soziale Netzwerk unter anderem Links zu extremistischen Seiten oder radikalen Inhalten. Um solche Links zu identifizieren, fehlte es dem sozialen Netzwerk damals an geeigneten Instrumenten. Funktionen zur Gesichts- und Video-Erkennung reichten zu Identifizierung nicht aus. Auf dem Christchurch-Gipfel in Paris diskutierten Politiker schon kurz nach dem Anschlag neue Richtlinien für Internetkonzerne. Das wenig später integrierte Statistik-Instrument «Click Gap» scheint ein Versuch zu sein, den Forderungen nach neuen Regelungen gerecht zu werden.
Das Tool soll Regelverstösse wie extremistische Links erkennen und anschliessend Sperren verhängen. Obwohl das Christchurch-Video bisher am meisten Aufmerksamkeit erregt hat, war es für Facebook nicht der einzige Video-Skandal im vergangenen Jahr. Dem Sozialen Netzwerk selbst wurde im Laufe des Jahres vorgeworfen, durch automatisch generierte Videos unwissentlich Propaganda zu betreiben. Per Automatisierung stellt das Netzwerk aus den Beiträgen seiner Mitglieder Video-Beiträge zusammen. Handelt es sich bei diesen Beiträgen um extremistische Inhalte, so entsteht daraus ein Propaganda-Video. «Click Gap» begegnet auch diesem Skandal, weil es entsprechende Posts schneller erkennt.
Fakt statt fake
Extremistische Inhalte sind auf Facebook aktuell vielleicht das extremste, aber nicht das einzige Problem. Ähnlich problematisch sind Falschinformationen, die insbesondere innerhalb von Facebook-Gruppen Verbreitung finden. «Click Gap» soll solche Informationen erkennen. Administratoren sollen dadurch nach Verstössen gegen die Nutzungsstandards noch schneller gesperrt werden.
Vor «Click Gap» hatte Facebook bereits versucht, Personen wie Journalisten und Wissenschaftler als unabhängige Experten zu gewinnen. Sie sollten unverlässliche Informationen herabstufen, damit in den Newsfeeds der Nutzer vorwiegend seriöse Beiträge auftauchen. Dieser lobenswerte Ansatz wurde wegen der zeitaufwändigen Verifizierung zu einem Schuss in den Ofen.
Der neue Algorithmus tritt nun an die Stelle der geplanten Experten. Verifizierungsfunktionen sind ab sofort auch für den Facebook-Messenger geplant. Ein Haken soll zukünftig verifizierte Medien und Personen geben erkennbar machen. Per Kontext-Knopf sollen sich Nutzer ausserdem Informationen zur Quelle empfangener Nachrichten verschaffen können. Damit geht das soziale Netzwerk konkret gegen Fake-Profile vor und kann sie zukünftig schneller von der Plattform verbannen.
So gut sich die Pläne um den neuen Algorithmus auch anhören, bleibt trotzdem ein Problem. Als statistisches Instrument kann «Click Gap» zwar die Verbreitungsdifferenz bestimmen, aber die Authentizität angeblicher Fakten und Personen lediglich über Wahrscheinlichkeiten einschätzen. Deshalb verschafft uns der überarbeitete Facebook-Algorithmus nicht nur Vorteile. Speziell die Facebook-Seiten alternativer Medien und kleinerer Unternehmen müssen mit starker Benachteiligung rechnen.
Das bedeutet «Click Gap» für unsere Popularität
Ob es um Blog-Beiträge die Produkte kleinerer Unternehmen geht: Um ausserhalb sozialer Netzwerke eine hohe Reichweite zu erzielen, muss man der Öffentlichkeit bereits ein Begriff sein. Bei der Marktetablierung haben Facebook-Seiten den Gründern alternativen Medien und kleineren Betrieben unter uns bislang geholfen. Nirgendwo konnten wir mit derart wenig Aufwand Backlinks sammeln. Nirgendwo hatte wir eine höhere Reichweite und unsere Google-Einstufung konnten wir nirgendwo einfacher verbessern.
Jetzt macht uns «Click Gap» bei Plänen wie diesen einen Strich durch die Rechnung. Während etablierte Unternehmen und bekannte Medien dank ihren Backlinks unverändert in den Newsfeeds zahlreicher Facebook-Nutzer erscheinen, sinkt für die Beiträge aller anderen Facebook-Seiten das interne Rating. Gleichzeitig sinkt die Sichtbarkeit für die Nutzer. Deshalb fällt es uns zunehmend schwerer, mit unseren Posts Reaktionen zu erzielen. Die abnehmende Interaktionsrate gilt unabhängig von der Beitragsqualität und verschlechtert zukünftig nicht nur unsere intere Sichtbarkeit. Reaktionen auf Facebook wirken auf die Google-Platzierung der jeweiligen Quelle. Die scheinbar abnehmende Reaktionsbereitschaft in der Facebook-Fangemeinde wird von der Suchmaschine entsprechend schlecht bewertet. Damit senkt «Click Gap» unsere virale Popularität und Sichtbarkeit auf verschiedene Art und Weise.
Vor diesen Hintergründen lohnt die professionelle Nutzung von Facebook-Seiten nach der Einführung des neuen Algorithmus nur noch bedingt. Die Diversität war bisher eine grosse Stärke des sozialen Netzwerks. Ähnlich steht es um den Chancenreichtum für kleinere und alternative Anbieter. Beides ist im Kampf gegen Falschmeldungen und extremistische Inhalte zum Kollateralschaden geworden.
Facebook-Timelines werden künftig fast ausschliesslich aus Mainstream-Inhalten bestehen, weil «Click Gap» Beiträgen abseits der Masse automatisch Fragwürdigkeit unterstellt. Mit dem tatsächlichen Gehalt unserer Posts hat das nur wenig zu tun. Um den echten Mehrwert der Beiträge zu identifizieren, bräuchte man statt einem Wahrscheinlichkeitsinstrument Experten aus Fleisch und Blut. Laut dem sozialen Netzwerk mangelt es an eben solchen. Und mehr Geld als algorithmische Verifizierungsversuche kosten sie vermutlich auch.