Agile Expert Talk #1: Ohne agiles Mindset keine agile Organisation?

Wir freuen uns, dass wir für diese Frage fünf Digicomp-Trainer gewinnen konnten, die Agilität als Scrum Trainer, Agile Coaches und Change Agents seit vielen Jahren leben. Und manche von ihnen sind inzwischen bei Kanban gelandet, wo auch schon der erste Glaubenskrieg beginnt. Na, dieses Gespräch kann ja nur heiter werden.

Autor/in Digicomp
Datum 31.05.2021
Lesezeit 17 Minuten

Das agile Manifest ist erwachsen geworden. 2001 schlug es ein wie eine Bombe und hat seitdem agile Frameworks und Methoden, wie Scrum, Kanban oder SAFe in viele Unternehmen hineinkatapultiert.

20 Jahre später ist Agilität noch immer das Top-Thema, das heute allerdings längst über die Softwareentwicklung hinausreicht, weil sie die beste Antwort auf das Führen eines Unternehmens in Zeiten des digitalen Wandels verspricht.

Schaut man aber etwas genauer hin, stellt man fest, dass Agilität zwar in all ihren bekannten Buzzwords längst in aller Munde ist, aber oft nicht gelebt wird, was drinsteckt.

Im Gespräch in unserer Expertenrunde tauchen wir unter die schillernde Oberfläche und fragen genauer nach. Was ist Agilität? Was braucht es damit Unternehmen den Schritt zur agilen Organisation schaffen? Und woran scheitert es mitunter?

Wie seid ihr mit dem Thema Agilität zum ersten Mal in Berührung gekommen? Was hat euch daran so fasziniert, dass es schliesslich zu eurem Berufsthema wurde?

Ralph Jocham: Nach meinem Informatikstudium habe ich 1997 angefangen als Softwareentwickler zu arbeiten und erfahren, dass wenn ich die Projektanforderungen richtig übersetze und das Ganze auch technisch gut umsetze, heisst das noch lange nicht, dass der Kunde zufrieden ist. Da habe ich erkannt, dass die Vorgehensweise eine grosse Rolle spielt. Über den Umweg des Unified Processes bin ich dann 2000 zur Agilität gestossen. Zuerst durch Extreme Programming, 2001/2002 habe ich dann Scrum in die Mischung mit hineingebracht und mir seitdem Agilität auf die Fahne geschrieben. Anfangs noch mehr von der technischen, dann auf der Team- und heute vor allem im Coaching auf Firmenebene. Mein Schwerpunkt ist das Thema Product Ownership, zu dem ich auch ein Buch geschrieben habe.

Marc Kaufmann: Als Medieninformatiker habe auch einen technischen Hintergrund und mein erster Kontakt mit Agilität entstand aus dem Schmerz heraus, dass klassische Projektarbeit, diese grossen phasengetriebenen Monsterprogramme, nicht mehr funktionieren. Damals war ich bei einem grossen deutschen Telekommunikationsanbieter beschäftigt, und aus dem Wissen, es muss etwas anderes sein, haben wir in meinem Team gesucht, Scrum gefunden und eingesetzt. Richtiges Scrum war das zwar noch nicht, nichtsdestotrotz hat es uns total geholfen und mich so fasziniert, dass ich damals, vor mehr als 13 Jahren, in die agile Welt abgebogen bin. Zuerst in Festanstellung, dann als Führungskraft und jetzt inzwischen freiberuflich als Professional Scrum Trainer und Professional Certified Coach der International Coaching Federation (ICF). Denn neben dem Trainieren und dem Machen mit Scrum ist mir der menschliche Faktor sehr wichtig, denn Menschen machen die Arbeit. Egal welches Framework man einsetzen will: Der Kontakt mit den Menschen, das Miteinander, ist letztendlich das, was Projekte erfolgreich macht.

Uta Kapp: Nach vielen Jahren bei Bosch in der Softwareentwicklung habe ich in den 90ern in der Computerspiel-Szene die ersten agilen Methodiken kennengelernt – damals hiessen die noch anders und jede Firma hatte andere. Ich habe dort Trainings in Java und objektorientiertem Softwareengineering gegeben und realisierte relativ schnell, dass die Technologie nicht das Problem ist und auch nicht hilft, sondern das Problem war die Zusammenarbeit. So kam ich dann zum Agilen und später zu Scrum, bei dem ich bis heute geblieben bin, weil es für mich das Problem der Zusammenarbeit radikal adressiert und gelöst hat.

Markus Wissekal: Meine erste berufliche Station im agilen Umfeld begann mit Scrum im Bundesumfeld in Wien. Dort habe ich mich vom Software Engineer zum Projektmanager weiterentwickelt und mit einem Inkubator-Team Scrum als Scrum Master in der Firma gestartet. 2011 wechselte ich zum damaligen Schweizer Marktführer im Online-Reisebereich und konnte dort mit meinen E-Commerce Teams viele coole Sachen mit Scrum umsetzen, allerdings, um dann aber später festzustellen, dass in vielen anderen Bereichen der Industrie die Vorgaben von Scrum teilweise zu extrem sind und dass es Organisationsstrukturen gibt, die da einfach noch nicht mithalten möchten. Auf der Suche nach einer evolutionäreren Methode habe ich mich in Kanban verliebt. 2015 wurde ich der ersten Kanban-Trainer der Schweiz und verbreite heute mit meinem Unternehmen die Botschaft, dass man auch in kleineren Schritten Veränderung leben kann.

Marco Tommasone: Ich habe auch den typischen Karrierepfad von damals eingeschlagen: Softwareentwickler, Architekt, Teamleiter, Projektleiter. In einer meiner letzten Festanstellungen haben wir noch sehr wasserfallartig Software entwickelt und damit immer wieder grosse Probleme gehabt, schnell auf Marktveränderungen und die Wünsche der Kunden zu reagieren, so dass wir Anleihen bei Scrum gesucht haben. Weil ich so viel Potential in Scrum und der ganzen Agilität gesehen habe, habe ich mich von da an immer mehr mit Scrum beschäftigt und versucht ähnliche Ideen in Unternehmen reinzutragen: zuerst in Festanstellungen und dann als Freiberufler. 2015 bin ich in die Schweiz ausgewandert und habe dort mit Kollegen eine Firma rund um Agilität gegründet. Wir sind in der Riege auch offizielle SAFe-Trainer, aber wenn man mich fragt, wo ich beheimatet bin: kommend von Scrum, kennen und lieben gelernt Kanban. Aber grundsätzlich finde ich es viel wichtiger, das Agile in den Vordergrund zu stellen und den Kunden zu fragen: Was sind die Herausforderungen? Und was könnten in der aktuellen Situation potentielle Antworten sein. Denn manchmal sind harte Antworten nicht die, die dem Kunden gerade helfen.

 

Wie würdet ihr Agilität in einem Satz definieren?

Ralph Jocham: Agilität ist das Aufheben der Verbohrtheit in eine falsche Denkweise.

Was ist die falsche Denkweise?

Ralph Jocham: «Irgendwann funktioniert’s, auch wenn es davor nie funktioniert hat, ich muss es nur irgendwann mal schaffen richtig zu machen.» Aber wenn etwas ein paar Mal nicht funktioniert hat, dann darf ich nicht das Endergebnis anzweifeln, sondern die Art, wie ich denke und wie ich handele.

Marc Kaufmann: Für mich ist Agilität letztendlich ein Zugeständnis daran, dass die Zukunft nicht vorhersagbar ist, auch wenn ich noch so gut plane.

Markus Wissekal: Ja zu beidem und zudem ist Agilität für mich ein Verstehen, dass ich trotzdem vorwärts gehen muss und aus diesem Grund Feedback benötige, um erste Schritte in diese Richtung zu machen und überprüfen zu können, ob es die richtigen waren.

Uta Kapp: Und wenn das so ist, muss ich den Mut haben, Dinge auszuprobieren. Das erfordert dann auch eine Veränderung der Unternehmenskultur. Es braucht eine Fehlertoleranz, weil Experimente natürlich auch mal schief gehen können.

Kann man das so zusammenfassen, dass Agilität eine Denkweise ist?

Marc Kaufmann: Ja, weil es eine innere Haltung oder ein Mindset braucht, um Projekte immer in kleinen Schritten anzugehen, Dinge mit einer toleranten Fehlerkultur auszuprobieren und neu zu erfinden, die einzelnen Schritte immer wieder zu vermessen und die mit dem Ziel zu vergleichen. Komme ich damit dem Ziel näher? Bin ich auf dem richtigen Weg? Dann thumbs up! Wenn nein, dann passe ich etwas an. Um mit dem Ungewissen umzugehen, brauche ich eine innere Grundhaltung, die neugierig, offen und mutig ist, wie Uta das sagt.

Marco Tommasone: Ausgehend vom Agile Manifesto finde ich den Gedanken sehr schön, Agilität als Mindset zu verstehen. Weil dort keine Lösungen vorgegeben sind. Dort ist nicht die Rede von Scrum, dort ist nicht die Rede von Kanban, von SAFe, LeSS, oder oder.

Wenn wir Agilität als Mindset begreifen, ist dieses dann die Grundlage dafür, dass die Anwendung von agilen Methoden funktioniert oder kann sich dieses Mindset auch entwickeln?

Ralph Jocham: Ich kann mir etwas vornehmen, ich kann sehr diszipliniert sein und das funktioniert eine Zeitlang ganz gut, aber irgendwann fällt man dann doch wieder in seine alten Verfahrensstrukturen zurück. Aber wenn ich das richtige Mindset habe, dann stellt sich die Frage der Disziplin gar nicht mehr, weil dann ist das was ich mache, offensichtlich.

Markus Wissekal: Da möchte ich Ralph ein wenig widersprechen. Mindsets, Einstellungen und Werte sind für mich wie Fitness. Wenn man nicht daran arbeitet, versteinert man in gewisser Weise. Und an der Stelle bin ich ein besonders grosser Fan davon, dort zu starten, wo ich mich gerade befinde und so grosse Schritte zu nehmen, wie es dort eben auch möglich ist, um eine Verbesserung für meine Zukunft zu erwirken. Da gibt es dann im Mindset auch kein richtig oder falsch. Ideen ausprobieren zu können ist etwas Tolles. In manchen Firmen ist eine solche tolerante Fehlerkultur aber noch ein wenig im Hintertreffen. Und trotzdem kann ich grossartige Dinge mit den Menschen die da arbeiten erschaffen, weil niemand komplett dadurch definiert ist, in welcher Firma oder in welcher Umgebung er arbeitet.

Uta Kapp: Ich denke, dass an der Stelle ein Prozess ins Rollen kommt, den wir aus der Gruppendynamik kennen und diesen Prozess, den muss man zulassen und vielleicht auch begleiten, weil es Konflikte gibt. Es bringt nichts, diesem aus dem Weg zu gehen, man muss auf die andere Seite des Konflikts gelangen, um dann weiterzugehen.

Marco Tommasone: Für mich ist das ein grosses Zusammenspiel. Denn wenn ich überlege, wie Lernen bei mir funktioniert, dann reicht ein Mindset alleine nicht immer aus. Mir hilft es oft, mich zurück zu besinnen. Was steht in der Literatur? Ich glaube, wenn man mit agilen Frameworks oder agilen Methoden sehr strukturiert vorgeht, dann hilft das auch wieder disziplinierter zu sein und bessere Ergebnisse zu erzielen. Ein grosser Anteil ist natürlich der Reifegrad. Wo befinde ich mich gerade? Was sind die Gründe, warum etwas das vorher sehr gut funktioniert hat, plötzlich nicht mehr funktioniert?

Ihr seid seit vielen Jahren in Unternehmen als Agile Coaches und Trainer unterwegs. Was macht den Weg zur agilen Organisation häufig schwierig?

Ralph Jocham: Letztendlich wird das Verhalten in einer Firma durch die vorherrschende Firmenkultur reflektiert. Wenn ich nun eine Firma agil aufstellen möchte, möchte ich ja das Verhalten der Mitarbeitenden verändern, dadurch muss ich das Mindest verändern. Das heisst, ich muss die Firmenkultur verändern – und das ist keine triviale Aufgabe! Wenn wir sagen, dass der Bau eines komplexen Produktes unvorhersehbar ist und wir Feedback Loops brauchen, wie herausfordernd ist es dann, eine Firmenkultur neu auszurichten, wo wir sagen, es ist ok Fehler zu machen, es ist ok, Risiken einzugehen, es ist ok, neue Sachen auszuprobieren? Da knarrt es bei den meisten Firmen.

Uta Kapp: Was ich auch oft erlebe ist, wie wichtig es ist, alle mitzunehmen. Denn wir haben in den klassischen Unternehmen schon Positionen definiert und diese Positionen sind auch oft an Incentives geknüpft. Die Angst vor Kontrollverlust ist sehr gross. Nehmen wir mal ein Beispiel: Projektleiter befinden sich auf einer informellen Hierarchiestufe und müssen in Scrum einen neuen Platz finden. Das macht natürlich auch Angst und wenn das nicht begleitet wird und nicht alle mitgenommen werden, dann werden die natürlich zurückschlagen, um diesen Kontrollverlust irgendwie auszugleichen. Insofern ist der Wandel zum agilen Unternehmen auch ein tiefgreifender Coachingprozess. Ein Coachingprozess von einer Einzelperson ist schon sehr schwierig, aber ein Coaching von einem ganzen Team, das ist noch viel herausfordernder. Da geht’s dann schon richtig ans Eingemachte!

Marco Tommasone: Ich würde das trennen zwischen einer Mindset-Thematik und generell jeder Veränderung. Wir Menschen sind per se tendenziell veränderungsresistent. Das hat nichts mit Agilität zu tun, das ist Komfortzone. Die Komfortzone ist angenehm, weil wir das Risiko kennen, und alles ausserhalb unserer Komfortzone – dieser Instinkt kommt ja aus der Uhrzeit – könnte den Tod bedeuten. Und wenn wir in Organisationen unterwegs sind, ist es dort genau das gleiche Spiel. Man möchte den Status quo beschützen, weil alles andere eine Gefahr bedeuten kann. Vielleicht sogar für einen ganz persönlich, weil man fürchtet den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren – was ja gar nicht mit Agilität gesagt, aber manchmal so transportiert wird. Dann ist es verständlich, dass es Ressentiments gibt und dementsprechend hat vieles mit der Komfortzone und der Trägheit der Veränderungen von Menschen zu tun.

Ralph Jocham: Und da sind wir wieder beim Mindset.

Marco Tommasone: Auch, aber nicht nur, weil auch Hilfsmittel notwendig sind, damit das Ganze dann wieder greift.

Ralph Jocham: Aber wenn ich diese Hilfsmittel habe und ich weiss, ich kann mich auf die verlassen, dann ändert sich doch auch mein Mindset.

Marco Tommasone: Manchmal ist es für die Person gegenüber schwierig darauf zu vertrauen, dass du die «richtigen» Antworten hast. Deshalb sollte man generell mit Veränderung arbeiten und sich wieder mehr auf Empirie berufen. Lasst uns kleine Experimente machen. Was dann immer rauskommt, ist unsere nächste Erkenntnis. Vielleicht ist das, was du vorhast sinnvoller, vielleicht ist es das, was ich dir als Coach empfehle.

Markus Wissekal: Eine Sache, die wir gerade auch im Trainingsbereich oft vergessen, ist, die richtigen Fragen zu stellen. Niemand sollte alle Antworten von einem Trainer erwarten. Ebenso sollte kein Trainer sich anmassen genau zu wissen, was diese Unternehmung oder dieses Team braucht. Hier sollte man das Feingefühl beweisen, die richtigen Fragen zu stellen, um dann gemeinsam mit dem Kunden zu erkennen, was bereits gut läuft, worauf man aufbauen kann und was die Dinge sind, die zurzeit nicht so gut laufen.

Könnte man behaupten, dass eine Einführung von agilen Methoden auch immer von einer Arbeit an der Firmen- und Führungskultur begleitet werden sollte?

Ralph Jocham: Ich glaube, es ist relativ leicht, die Menschen zu motivieren, die die Arbeit umsetzen. Denn wenn man sagt, ihr bekommt Autonomie, ihr könnt selbst entscheiden und euch selbst organisieren – da sagt keiner nein. Das kommt aber nur auf eine gewisse Höhe hoch und irgendwann ist dieser harte Deckel letztlich da, man spricht auch vom «Frozen Core». Auch für das Upper Management hören sich agile Arbeitsweise erstmal toll an: «Ihr kriegt eure Produkte und Services billiger, schneller und sogar mehr davon.» Dann sagen die: «Ja klar, das wollen wir auch, wir werden jetzt eine agile Firma.» Und dann muss ich es wirklich schaffen, diesen Kuchen von beiden Seiten bis zum mittleren Management zu durchdringen. Firmen haben ein Immunsystem. Und wenn Änderungen hineingebracht und diese nicht klar genug kommuniziert werden, dann ist das ein Fremdkörper. Der wird identifiziert, abgetötet und beseitigt.

Was sollten Führungskräfte lernen, damit eine Einführung von agilen Methoden auch durch diesen Frozen Core im Mittleren Management durchschlagen kann?

Uta Kapp: Das hat oft gar nicht viel mit der Methodik zu tun, sondern vielmehr mit Respekt. Es ist wichtig, dass die Menschen respektiert werden, die lange dabei sind und sich lange eingesetzt haben. Und es ist auch wichtig, dass man ihnen zumutet bei der agilen Transformation mitzumachen. Es ist schliesslich ja auch ihre Aufgabe das Unternehmen erfolgreich zu machen. Und das kann kein Coach leisten, das kann eigentlich nur das Top-Management leisten. Wenn das Top-Management dahintersteht und es einen Grund gibt, warum diese agile Transition gelingen muss, dann funktioniert das normalerweise auch. Aber wenn das nicht der Fall ist, dann muss man ihnen helfen, genau das zu erreichen. Insofern hat das mit echter Führung zu tun und dem Wissen, wo man hinwill.

Fortsetzung folgt.


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Digicomp