Scrum in der Praxis: 4 typische Probleme und wie sie zu fixen sind
Scrum-Trainer Marc Kaufmann erklärt, wo Scrum-Teams scheitern und welche Tools helfen, wieder auf Kurs zu kommen.
Kein agiles Framework wird in der Praxis häufiger eingesetzt als Scrum. Scrum ist mit seiner schrittweisen Vorgehensweise in komplexen Umfeldern erfolgreich, also dort, wo mehr ungewiss als gewiss ist und es ums schnelle Lernen und Anpassen geht. Zum Beispiel überall, wo sich Technologien rasch wandeln, wo die Anforderungen unklar sind oder mit den Kundinnen und Kunden erst gemeinsam ermittelt werden muss, was das Ziel eines Produkts ist.
Aber auch wenn Scrum der richtige Werkzeugkoffer für deine Herausforderung ist, ganz reibungslos verläuft die Implementierung in der Praxis selten. Welche bedeutende Veränderung kennst du, die auf Anhieb wie geschmiert läuft?
Die eine Lösung für jedes Problem gibt es dabei natürlich nicht, aber eine Reihe von bewährten agilen Methoden und Techniken, die deiner Scrum-Implementierung den entscheidenden Tropfen Öl verpassen können.
Unser Professional Scrum Trainer von Scrum.org, Scrum Master und Agile Coach Marc Kaufmann erklärt, welche Probleme ihm in der Praxis am häufigsten begegnen und welche Best Practices dir erfahrungsgemäss die entscheidenden Impulse liefern, um dein Scrum Game zu verbessern und deine Projekte schnell, kundenorientiert und erfolgreich ins Ziel zu bringen.¹
Die 4 typischen Scrum-Probleme
- Es wird nicht das gebaut, was gebraucht wird
- Die Zuverlässigkeit der Lieferungen fehlt
- Die Verbesserung stagniert
- Es fehlt an Eigenverantwortung
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Problem 1: Es wird nicht gebaut, was gebraucht wird
Lösung: Finde heraus, für wen und wozu du etwas entwickelst
Damit deine Sprints auch wirklich zum Ziel führen, müssen Scrum Teams die Fragen «Für wen?» und «Wozu?» klären. Die folgenden vier Methoden helfen dir Schritt für Schritt dabei.
A – Führe Kundensafaris durch
Werde dir klar darüber, wer deine Kundinnen und Kunden sind. Häufig stossen Scrum Teams hier auf Probleme, wenn du mit internen Kundinnen und Kunden zu tun hast. Dann frag am besten: Wer hat dich beauftragt? Wer sponsert mit seinem Geld den Auftrag?
B – Definiere den Wert im Projektkontext
Wenn du deine Kundinnen und Kunden identifiziert hast, diskutiere mit ihnen, um zu verstehen, welche Bedürfnisse sie haben und was für sie von Wert ist. Dient der Auftrag der Erhöhung der Kundenzufriedenheit?
Geht es darum, Kosten zu senken? Finde gemeinsam heraus, was genau deinen Kundinnen und Kunden oder Stakeholderinnen und Stakeholdern das Leben erleichtert.
C – Nutze die Produktvision als Tool
Eine Produktvision hilft dir, dass sich alle Mitglieder eines Scrum Teams gemeinsam mit deinen Stakeholderinnen und Stakeholdern an geteilten Zielen ausrichten. Denn wenn es dann mal stürmisch wird (zu viel Arbeit, zu wenig Zeit), können sich alle wieder auf das gemeinsam verabschiedete Zielverständnis besinnen, fokussieren und prüfen, ob sie noch auf dem richtigen Weg sind. (Auch Selbstverantwortung und Commitment wird so erst möglich gemacht.)
Eine Produktvision erarbeitest du am besten gemeinsam mit allen Stakeholderinnen und Stakeholdern in einem Product Vision Workshop.
Tipp: Das Erstellen von Personas, Value Propositions und die Definition von KPIs haben sich bei der Zielformulierung praktisch bewährt.
D – Involviere deine Stakeholderinnen und Stakeholder fortlaufend
Der Stakeholder-Austausch und der persönliche Kontakt sollte mit dem Workshop nicht enden, sondern mit der Beteiligung an Refinement und Review Events weitergehen. Auch beim Ordnen des Product Backlogs lohnt es sich, deine Stakeholder einzubeziehen. Darüber hinaus haben sich beispielsweise gemeinsam organisierte Guerilla Testings bewährt.
Problem 2: Die Zuverlässigkeit der Lieferungen fehlt
Lösung: Mach schnelle, kleine, aber auch «fertige» Schritte
Scrum sieht vor, schnelle und kleine Schritte zu machen, um kontinuierlich dazu zu lernen – diese Schritte sollten aber auch der Definition of done entsprechend «fertig» sein, damit du auch schnell Feedback von den Nutzerinnen und Nutzern gewinnen kannst. Das ist einfach gesagt, aber in der Praxis tatsächlich oft schwer umzusetzen.
Es gibt verschiedene Gründe (Impediments), die ein Scrum Team daran hindern können, zuverlässig auszuliefern. Zum Beispiel sind Releases oft zu gross geschnitten. Oder dem Team fehlen bestimmte Skills. Nicht zuletzt ist die agile Denkweise in vielen Unternehmen noch zu wenig verankert.
Um diese Hindernisse zu überwinden, gibt es verschiedene Best Practice Methoden, die gezielt auf die Problemursache einwirken. Es gilt zwischen der technischen, organisatorischen sowie finanziellen Ebene zu unterscheiden.
Best Practices auf technischer Ebene:
E – Sanier deine «Definiton of Done (DoD)»
Revitalisiere deine DoD. Dabei hilft diese Leitfrage: Angenommen, du würdest nach jedem Sprint releasen, welche Checks bräuchtest du, um dauerhaft eine hohe Qualität des Produkts sicherzustellen?
F – Nutze Automatisierung
Überlasse manuelle, repetitive Standard-Aufgaben den Maschinen, dann hat das Team mehr Kapazitäten für anspruchsvolle und singuläre Tasks.
G – Schneide deine PBIs kleiner und vertikal
Die einzelnen Elemente im Product Backlog (PBIs) gilt es möglichst kleinteilig zu beschreiben, um Zwischenziele schneller zu erreichen. Mache dabei vertikale Schnitte statt Komponenten-Schnitte, um Abhängigkeiten von der Anforderungseite besser zu handeln.
Best Practices auf organisatorischer Ebene:
H – Erhöhe deine Crossfunktionalität mit einer Skillmatrix
Mit einer Skillmatrix kannst du visualisieren, wo im Team welches Wissen vorhanden ist. Dann wird schnell ersichtlich, wo die Wissensinseln liegen und es lassen sich gezielt Lösungen finden, wenn Lücken auftauchen.
Best Practices auf finanzieller Ebene:
I – Erstelle einen Business Case für Continuous Delivery
Das Management ist naturgemäss empfänglich für Zahlen. Das können sich Scrum Teams zunutze machen, wenn du beispielsweise das Management überzeugen möchtest, in Automatisierung zu investieren. Ermittele dafür die Zeit, die du aktuell bis zum Release brauchst, inklusive der Arbeitsstunden für alle manuellen Tätigkeiten. Mit dieser – in der Regel grossen – Zahl kannst du nun kleine Experimente durchführen und zeigen, dass die Releases derzeit zu viel Zeit brauchen und daher zu teuer sind.
J – Limitiere die Anzahl simultaner Projekte
Sind Teammitglieder mit vielen Aufgaben gleichzeitig beschäftigt, entstehen hohe Reibungsverluste und es wird schlussendlich weniger ausgeliefert. Denn das Switchen zwischen den einzelnen Aufgaben kostet Zeit und Energie. Fokussiertes Arbeiten ist weitaus effektiver, dass beweisen auch empirische Studien. Sobald an vier Projekten gleichzeitig gearbeitet wird, werden mehr Ressourcen für die Kontextwechsel aufgewendet, statt für die eigentliche Entwicklung.
Insbesondere Feuerwehrübungen, die den geplanten Arbeitsfluss unterbrechen, sind dabei häufig ein Problem. Beginne das Problem zu lösen, indem du die Unterbrechungen transparent und messbar machst. Dann müssen für eine zuverlässige Auslieferung andere Tasks für dringendere aus dem Work in Progress rausfallen. Setze dir dafür am besten klare Grenzen, beispielsweise 3 Tasks in Progress je Teammitglied.
K – Involviere deine Stakeholder
Deine Stakeholderinnen und Stakeholder sind mächtige Verbündete, wenn es um die Qualität, aber auch die Geschwindigkeit der Lieferungen geht. Deshalb solltest du diese regelmässig befragen, wie zufrieden sie mit den heutigen Entwicklungen und ihrer Qualität sind. Angaben auf einer Skala von eins bis zehn machen die Ergebnisse mess- und vergleichbar. Sammle diese Daten, um Trends zu erkennen und gegebenenfalls gegenzusteuern.
Lesen Sie dazu auch den Beitrag von Scrum Trainer Peter Gfader: 5 Schritte für mehr Zuverlässigkeit
Problem 3: Die Verbesserung stagniert
Lösung: Teile und lerne
Empirisches Vorgehen ist in Scrum systemisch in den Retrospektiven angelegt. Scrum Teams müssen sich dadurch immer wieder fragen, ob die Ergebnisse den Erwartungen an sie selbst entsprechen und was sie gegebenenfalls verändern müssen.
Viele Teams verbessern sich trotz Feedbackschleifen aber oft nicht, weil das Lernen aus Fehlern nicht wirklich gelebt wird oder die Stakeholderinnen und Stakeholder in den Retrospektiven fehlen. Die folgenden Techniken setzen nachhaltig Impulse zu einer stetigen Verbesserung.
L – Belebe deine Retrospektiven
Setze dich im Team damit auseinander, wie du die Retrospektiven verbessern kannst, damit sie wieder einen Sinn stiften.
M – Orientiere dich an den Scrum-Werten
Fokus, Respekt, Commitment, Offenheit, Courage – das sind die Scrum Werte. Kläre im Team, wo ihr bereits gut seid und was ihr besser machen könnt.
N – Mache die Scrum Impediments transparent
Spüre die Hindernisse auf, die einer Verbesserung im Wege stehen. Mache diese sicht- und messbar.
O – Führe kleine Experimente durch
Teste erstmal im Kleinen, wie es besser klappen könnte.
P – Mache Erfolge sichtbar
Zeige jeden Erfolg auf – und sei er noch so klein. Erfolgserlebnisse heben die Stimmung und motivieren zum Weiterarbeiten.
Q – Nutze eine Lösungssprache statt einer Problemsprache
Frage nicht «Was ist das Problem?» oder «Wer ist schuld?», sondern «Was wollen wir erreichen?» und «Was hat früher schon gut funktioniert?». Problemsprache hemmt und baut Barrieren auf, Lösungssprache steigert die Eigeninitiative.
R – Fokussiere dich auf das, was du ändern kannst
Rücke nicht die Probleme, die du selbst nicht lösen kannst, in den Vordergrund, sondern konzentriere dich auf das, was du selbst zur Verbesserung beitragen kannst – und packe das in kleinen Schritten an.
Problem 4: Es fehlt an Eigenverantwortung
Lösung: Suche die 15% Lösung
Ohne Eigenverantwortung kein Scrum. Die Teams und jedes Teammitglied müssen selbstständig arbeiten können. Ständig jemanden um Erlaubnis fragen zu müssen, hindert und blockiert. Ein bewährtes Reparaturwerkzeug für dieses typische Scrum-Problem ist die sog. 15-Prozent-Lösung.
S – Nagel 15 statt 100 Prozent
15 statt 100 Prozent bedeutet, in kleinen Schritten zu denken, die ohne Abhängigkeit von anderen angegangen werden können. Sprich: Was kannst du jetzt machen, ohne um Erlaubnis fragen zu müssen? Das fördert deine Eigeninitiative und deine Eigenverantwortung und führt zu schnelleren Erfolgen.
Hast du dein Scrum Team oder deine Scrum Organisation in einigen der Probleme wiedererkannt? Dann hoffen wir, du hast durch diesen Beitrag viele spannende Impulse gewonnen, um dein Scrum in der Praxis kontinuierlich zu verbessern. Am besten pickst du dir eine Methode heraus, experimentierst im Kleinen, inspizierst und adaptierst entsprechend dem Geist des agilen Manifests und natürlich von Scrum. No big risk, no big harm.
Aber bevor du dich an den Reperaturwerkzeugen ausprobierst, möchten wir dir noch einen letzten grundlegenden Tipp mitgeben: Neben Praxiserfahrung und dem Einsatz des richtigen Werkzeugs bzw. Methoden und Techniken ist es wichtig, dass du dir Zeit nimmst, dein Handwerk auch richtig zu erlernen. Um Scrum effizient anzuwenden, solltest du das Konzept von Professional Scrum grundlegend verstehen.
Gerne unterstützt dich Digicomp dabei. In unseren praxisnahen Professional Scrum Trainings erwirbst du die notwendigen Fachkenntnisse und wirst zudem auf die hochwertigen Zertifizierungen von Scrum.org vorbereitet.
¹ Fussnote: Der Inhalt dieses Beitrag stammt aus unserem DigiSnack-Webinar mit Marc Kaufmann zum Thema «Fix Dein Scrum! Praktische Lösungen für häufige Probleme» vom 11.05.2022. Wir haben es protokolliert und gekürzt. Die Aufzeichnung zum Nachschauen findest du hier.