IPv6 bringt keine Vorteile, sondern nur Kosten? Diese Meinung ist in vielen Unternehmen noch verbreitet. Expertin Silvia Hagen zeigt in ihrem Artikel auf, dass diese Sichtweise jedoch Bereiche ignoriert, in denen IPv4 zunehmend problematisch wird und IPv6 Lösungen bieten kann. Verschaffen Sie sich einen Überblick.
Die Wahrnehmung, dass IPv6 keine Vorteile bringt, sondern nur Kosten verursacht, ist in vielen Unternehmen noch verbreitet. Diese Sichtweise ignoriert jedoch Bereiche, in denen IPv4 zunehmend problematisch wird und IPv6 Lösungen bieten kann. In diesem Beitrag möchte ich Ihnen einen Überblick verschaffen.
Die Realität ist, dass die Qualität des IPv4-Internets laufend abnimmt. Dies wird hauptsächlich durch sogenannte Carrier Grade NAT (CGNs) verursacht. CGN ist ein Mechanismus, den ISPs (Internet Service Provider) zunehmend einsetzen müssen, weil sie keine IPv4-Adressen mehr haben, um ihrem wachsenden Kundenstamm IPv4-Internetdienste bieten zu können. Dabei werden mehrere Kunden über eine öffentliche IPv4-Adresse ins Internet verbunden. Das ist aus mehreren Gründen problematisch:
Immer mehr Kunden migrieren auf IPv6, um die Nachteile von CGN zu vermeiden. Das IPv4-Internet wird zunehmend zu einem Zweitklassdienst im Vergleich zu IPv6. Das ist relevant, sowohl aus Endusersicht (die Kunden von ISPs) als auch aus der Contentanbietersicht. Bei Informationswebseiten mag einfach die Performance eingeschränkt sein. Bei komplexeren Webseiten, wie z.B. E-Shops, wo eine Authentifizierung nötig ist, können CGNs auch dazu führen, dass der Dienst gar nicht mehr funktioniert.
Besonders ärgerlich ist dies, weil es sowohl aus Sicht des Endusers als auch aus der Sicht des Contentanbieters nicht sicht- und kontrollierbar ist, wann das passiert, weil der CGN, oder mehrere CGNs irgendwo auf der Transportstrecke zwischen Kunde und Webseite steht. Für den Endkunden sieht das einfach so aus, wie wenn die Webseite langsam oder nicht funktionsfähig ist.
Die Ansicht, dass noch kaum jemand IPv6 benutzt, ist ebenfalls verbreitet, entspricht jedoch nicht der Realität. Dies darum, weil ein Enduser, dessen ISP IPv6 eingeführt hat, sich in der Regel gar nicht bewusst ist, dass er schon längst mit IPv6 surft. Sobald ein Internetbenutzer einen sogenannten Dual-stack-Internetzugang hat (d.h., beide Protokolle sind aktiv und er kann wahlweise IPv4 oder IPv6 benutzen), wird er auf jede Webseite, die ebenfalls dual-stack ist, über IPv6 zugreifen. Wer sich dafür interessiert, kann in seinem Browser ein Addon installieren, das ihm die jeweilige Verbindung anzeigt.
Nachfolgende Statistik wird von Google erstellt und zeigt, wie viele der Google-Besucher weltweit mit IPv6 auf Google zugreifen. Die Google Website ist seit 2012 öffentlich dual-stack.
Per Ende März 2018 sind demzufolge rund 22% der globalen Internetbenutzer mit IPv6 unterwegs. In der Tat sind es natürlich mehr als 22%, da dies nur die Google-Perspektive ist und bestimmte Länder, wie z.B. China, nicht vollständig in der Statistik vertreten sind. 22% entspricht knapp einer Milliarde IPv6-Benutzern. Als Vergleich, der aufzeigt, wie schnell das Internet wächst: Die Welt hatte 2001 global gesehen total 350 Mio. Internetbenutzer (IPv4 und IPv6). Heute sind es 4,15 Mrd.
In Ländern in unserem Wirtschaftskreis sind die Zahlen deutlich höher. Belgien ist mit über 50% der World Leader seit 2014. In Belgien haben die meisten ISPs gleichzeitig IPv6 eingeführt, vor allem aus sicherheitsrechtlichen Gründen, weil sie CGNs vermeiden wollten. Deutschland geht gegen 40% und die Schweiz bewegt sich im Bereich von 30%, das sind rund 2,2 Mio User.
Für Contentanbieter mit Dual-stack-Webseiten bedeutet dies, dass rund 30% der Schweizer Benutzer mit IPv6 zugreifen und darunter ein guter Prozentsatz über IPv6 eine bessere User Experience hat als über IPv4.
Facebook, Akamai und LinkedIn berichten schon seit letztem Jahr, dass über 50% ihrer User via IPv6 zugreifen. Viele dieser User sind amerikanische mobile User. Dies, weil grosse Provider wie T-Mobile und Verizon Wireless Millionen von Usern IPv6-only Anschlüsse zur Verfügung stellen. Damit diese trotzdem strikte IPv4-Dienste wie z.B. Skype benützen können, gibt es Mechanismen wie 464XLAT. Solche Dienste werden auch von europäischen Mobile-Anbietern in Erwägung gezogen.
Bei der Frage des Vorgehens und der Priorisierung gilt es zu unterscheiden zwischen dem öffentlichen Bereich der nach aussen angebotenen Dienste und dem internen Netzwerk.
Aus Businesssicht und Gründen des Investitionsschutzes ist es wichtig, die Infrastruktur früh genug auf die Einführung von IPv6-Diensten vorzubereiten. Wenn plötzlich ein unerwarteter Bedarf entsteht und die Basis (Netzwerk, Datacenter, Backend) nicht IPv6-fähig ist, kann das zu unnötigen Kosten und komplexen Szenarien führen. So geschehen bei den SBB. Das Business beschloss, Anfang 2019 die erste IoT (Internet of Things) App für Zugpassagiere zu lancieren. Sie kamen zur Netzwerkgruppe und beantragten rund 1000 IP-Adressen für 1200 Züge. Das sprengte den Rahmen der Möglichkeiten mit IPv4. Die App muss demzufolge mit IPv6-only ausgerollt werden (dual-stack funktioniert nur, wenn man noch genug IPv4-Adressen hat!). Da aber die ganze Netzinfrastruktur und das Backend heute noch IPv4-only sind, kommt man nicht darum herum, Translation (Übersetzung von IPv6 auf IPv4) einzusetzen. Das ist umständlich, komplex und aus Betriebs- und Troubleshooting-Perspektive ungünstig.
Abgesehen von solch zunehmend auftauchenden IoT-Adressanforderungen gibt es andere Gründe, die Infrastruktur IPv6-ready zu machen. Immer mehr Hersteller fangen an, IPv6 in ihren Produkten zu implementieren und teilweise auch vorzuschreiben. Wohl das bekannteste Beispiel ist Microsoft mit einigen Diensten, wie z.B. Exchange. Es ist nicht mehr möglich, IPv6 abzustellen. Microsoft verweigert in solchen Fällen teilweise sogar den Support. Apple verlangt seit iOS 9, dass in ihrem Appstore nur noch Apps angeboten werden, die IPv6-only fähig sind.
Wer sich einen guten und kompakten Überblick über bewährte planerische Fragestellungen und Vorgehensweisen machen will, kann dies am 7. Mai an einem 1-Tageskurs bei Digicomp machen. Wer sich vertiefter mit technischen Fragen und Migrationsszenarien auseinandersetzen möchte, kann dies am 3-Tages-Hands-On-Workshop tun. Da steht jedem Teilnehmer eine eigene Infrastruktur zur Verfügung, in der er sich ungehindert und risikofrei mit den neuen Mechanismen vertraut machen kann.
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